Herr Rüther war mein Lehrer in Latein und in Erziehungswissenschaften (EW). In aller erster Linie sehe ich ihn allerdings als meinen Lateinlehrer. EW war für mich ein schwierigeres Fach als Latein, und darunter litt auch das Verhältnis zum Lehrer ein wenig. (Zum Glück hatte ich ihn nie in Sport; dann hätte ich wahrscheinlich ein ganz anderes Bild vom ihm!)
Meine erste Lateinstunde hatte ich im Spätsommer 1981. Ich war im Juli dreizehn Jahre alt geworden. Herr Rüther las die Namen der Schülerinnen des Kurses vor, und wir mußten einer nach dem anderen deutlich aufzeigen, wenn unser Name genannt wurde. Damit er die Namen lernen konnte. Als er mit allen Namen durch war, legte er die Liste beiseite und machte eine Bemerkung wie: „Gut, das weiß ich dann!“
Irgendwer fragte nach, und er meinte: „Ja, die Namen kann ich morgen oder übermorgen.“ Wir wollten das nicht glauben, aber es war wirklich so. Er war der einzige Lehrer, der unsere Namen innerhalb von ein-zwei, vielleicht drei Schulstunden gelernt hatte und niemals verwechselt hat. Ich nehme an, er hat sie gelernt wie Lateinvokabeln.
Ich mochte den Unterricht. Es war immer sehr ruhig und still in den Lateinstunden. Es war aber nicht so, daß wir Angst vor ihm gehabt hätten. Es war einfach seine ruhige und gelassene Art, die auf uns abstrahlte.
Zu Anfang der Stunde wurden immer die Lateinvokabeln abgefragt. Mein Gedächnis war nicht gerade sehr zuverlässig; ich lernte nicht gern auswendig. Bei Latein habe ich dann aber doch eine Ausnahme gemacht. Es gab immer ein paar Worte, die man sich sehr gut merken konnte, und ein paar, die sich meinem Gehirn irgendwie entzogen. Da man ja wußte, daß die Vokabeln abgefragt wurden – ebenso wie neue Konjugationen oder Deklinationen-, war es natürlich sinnvoll, sie zu lernen. Dann verfolgte ich die Strategie, mich freiwillig bei den Worten und Dingen zu melden, von denen ich wußte, daß ich sie konnte, so daß ich nicht drangenommen wurde, wenn eines der Worte kam, die ich mir nicht merken konnte. Das hat eigentlich immer geklappt. Ich war mir zu fast hundert Prozent sicher, daß Herr Rüther diese Strategie durchschaute, aber er hat es dabei belassen. Er hat nie in die Lücken hineingefragt. Er war nicht hinterlistig. Er war kein unfairer Lehrer. Das zu wissen, war für mich wichtig.
Meistens kam nach dem Abfragen der Vokabeln das Vorlesen der Hausaufgaben, in der Regel Übersetzungen vom Lateinischen ins Deutsche. Als die lateinischen Sätze umfangreicher wurden, führte das zu allerlei Erheiterungen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ein nicht sonderlich begabter Schüler einen Satz ziemlich stotternd vorgelesen hatte. Von Herrn Rüther kam die Nachfrage: „Wie war das im
Mittelteil?“ Da war dann schon klar, daß der Satz daneben gegangen war – nicht nur im Mittelteil. Als wir weiter fortgeschritten waren, erhielten wir die erste Lateinische Weihe, das war die erste Lektüre, „De bello Gallico“ von Caesar. Als wir noch nicht wußten, was auf uns zukam, vertröstete Herr Rüther uns: „Ihr bekommt als Hausaufgabe auch nur einen Satz auf!“ Natürlich entpuppte sich dieser „nur eine Satz“ als ein Caesarischer Bandwurmsatz von der Länge eines Absatzes. Wahrscheinlich lernen Lateinlehrer diesen Spruch schon im ersten Semester des Studiums und freuen sich jedesmal diebisch, wenn wieder eine neue Lateinklasse darauf hereinfällt…
Ausgesucht beste Laune hatte Herr Rüther immer an den Klausurtagen. Regelrecht schadenfreudig – wir unterstellten gelegentlich sadistische Freude- verteilte er die Aufgabenblätter und Klausurhefte und lief beschwingt durch die Reihen. Während der Klausur hatte er die Angewohnheit, durch die Reihen zu streifen, mit den Händen zusammengelegt auf dem Rücken, hinter oder vor jemandem stehen zu bleiben und meist über die Schulter hinweg zu lesen, was man da gerade im Schweiße seines Angesichts fabrizierte. Wenn man das dann bemerkte und ihn ansah, verstärkte sich sein Grinsen und er ging ein paar Schritte weiter. Manchmal nickte er dabei eigenartig mit dem Kopf. Das Grinsen verging ihm regelmäßig, wenn er uns die Klausuren wiedergab. So heiter seine Laune bei der Klausur war, so schlecht war sie bei der Rückgabe. Sein Gesicht war verfinstert und ernst, seine Brille wirkte dunkler als sonst, und es fehlte sogar das relativ beständige zwinkernde Schmunzeln in den Augenwinkeln, vor dem wir sonst kaum je verschont wurden. Wir müssen wirklich eine schlimme Klasse gewesen sein!
Jedes Jahr im Spätsommer, wenn wir ein neues Schuljahr begannen, gab es neue Klassenbücher. Für die Wahlpflichtfächer gab es extra schmalere Bücher. In einem Jahr hatte Herr Rüther gleich zwei mit dabei, ein dunkelgrünes und ein bordeauxrotes. „Welches wollt ihr haben? Ihr könnt euch eins aussuchen!“ sagte er zu Beginn der Stunde. Von uns kam keine Antwort, und so sagte er: „Ach, nehmen wir das grüne! Grün ist die Hoffnung!“
Zum Alltag eines Schülers gehören auch Eltemsprechtage. Herr Rüther saß mit einigen der fürchterlichsten Sportlehrer zusammen im Sportlehrerzimmer, das war ein kleiner, schmaler Raum an der kurzen Seite der Mensa, relativ lang, aber nur zwei Meter tief. Vorn bestand die ganze Front aus Glasscheiben, auf die ungefiltert die Sonne prallte. Also eine Art Gewächshaus. Es gab auch nicht allzu viele Stühle in dem Raum: einen für den Lehrer, einen für den Elternteil und einen für den Schüler. Bei der Sitzgelegenheit für den Schüler handelte es sich um eine Art IKEA-Sessel der tiefsten Gangart, vollkommen ausgesessen. Als ich mit meinem Vater in das Lehrerzimmer kam, zögerten wir einen Moment, wer wo sitzen sollte, und Herr Rüther wies mir den Sessel zu. Als ich mich dort hineinsetze, saß ich fast auf der Erde, quasi unterirdisch. Da schmunzelte er und meinte. „Den haben wir hier extra für die Schüler. Damit die Positionen gleich klar sind.“ (Natürlich hat man das als Schüler geglaubt.)
Mit der Lateinklasse sind wir einmal nach Xanten ins Römerlager gefahren. Das war ein mächtig heißer Sommertag, ganz besonders in den hellen Steinen des Kastells. Als wir auf die Wehrgänge kletterten, schauten einige unserer großen Jungs (und Mädels) über die Wehrmauern und lachten, welche Funktion denn wohl so niedrige Schutzmauern hätten. Da meinte Herr Rüther sinngemäß: „Ja, ihr wärt jetzt alle tot. Die Römer waren nämlich ziemlich klein Die konnten hinter den Mauern aufrecht gehen, ohne von Pfeilen getroffen zu werden!“ (Den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr.)
Irgendwie hatten wir Xanten so Richtung Rhein – Köln – Bonn abgelegt, was wohl an der Hitze des Tages lag. Das fiel auf, als wir zurückfuhren. Irgendwer von den Jungs machte eine unvorsichtige Bemerkung, worauf Herr Rüther augenzwinkemd meinte: „Ja, fahren wir den jetzt mit oder gegen den Rhein?“ Da wir keine Antwort wußten, amüsierte er sich noch ein bißchen über uns. Wenn wir ihm eine Antwort schuldig blieben und er in fragende Gesichter schauen mußte, kam schon mal der Ausdruck „Großes Schweigen!“. Ich habe erst später erfahren, daß es ein Ausdruck aus dem Klosterleben ist; als Nicht-Katholikin war er mir nicht geläufig. Zum Thema Sport gab es einige selbstironische Einsichten. Ich weiß nicht, wie wir auf das Thema kamen. Jedenfalls meinte Herr Rüther einmal: „Ja, ja, man merkt schon, daß man älter wird … Früher ist man vor den Schülern hergelaufen, heute läuft man hinterher …“ (Das machte ihn auf jeden Fall sympathisch, denn wir hatten mehrere Sportlehrerinnen, die immer noch vorweg liefen und uns gnadenlos abhängten …)
Herr Rüther kam aus dem Sauerland, was man problemlos an dem Nummernschild seines dunkelblauen Golfs erkennen konnte: HSK. Herr Rüther kam jeden Tag aus dem Sauerland – auch bei dem unmöglichsten Wetter. Wie oft haben wir im Winter darauf spekuliert, daß Latein in den ersten Stunden am Morgen ausfallen würde – wegen Schnee und Eis, zugeschneiten Straßen, das Sauerland abgeschnitten von der Zivilisation. Aber weit gefehlt! Selbst wenn kein Schulbus mehr den Schulberg hinaufkam, die Lehrer aus den Ruhrauen schon aufgegeben hatten, die Mercedes-Modelle und BMWs reihenweise am Schulberg, der Eulenstraße oder dem Hirschberg festsaßen – wer kam immer? Herr Rüther! Was fiel niemals aus? Latein! Das gab ihm bei uns den Ruf, unverwüstlich zu sein.
Im Sommer war das Sauerland ein sehr beliebtes Ausflugsziel. Eine Mitschülerin unternahm einmal eine Radtour mit ihrem Freund durch das Sauerland und kam durch Grevenstein. Da fiel ihr ein, daß da Herr Rüther wohnte, sie wußte aber die Adresse nicht. Also fragten sie irgendwen auf der Straße nach dem Lehrer Rüther. Sofort erhielten sie die gewünschte Auskunft — was sie später sehr belustigte. Sie besuchten ihn und wurden zu selbstgemachtem Sauerkraut eingeladen. In der Wohnung hing ein Bild vom damaligen Papst an der Wand, was natürlich zu einigen Kommentaren Anlaß gab. Daraufhin meinte er entschuldigend, das habe seine Tochter aufgehängt. Die schwärme gerade für den Papst.
Herr Rüther war in Kleidungsdingen ein wenig „asketisch“ und trug mehrere Jahre lang immer dieselben Wollpullis in gedeckten Farben. Irgendwann tauchte er in einem nagelneuen Pulli auf. Erst in rot. Mittelrot! Dann in mittelgrün. Das gleiche Modell. Dann in marineblau. Wieder das gleiche Modell Daraufhin brachte einer der frechen Jungs in der Lateinklasse den Spruch. „Ah, sind Sie mal aus dem Sauerland rausgekommen? Hat Ihnen Ihre Frau neue Pullis gekauft?“
Ein persönliches Erlebnis hatte ich mit ihm, das mein Bild von ihm bis heute sehr stark prägt. Das war in der neunten oder zehnten Klasse, und ich hatte so ungefähr meinen absoluten sozialen Tiefpunkt erreicht. Ich hatte mich mit der gesamten Klasse und meinem Klassenlehrer überworfen und meinen Kopf gegen die Interessen der anderen und gegen alle sozialen Regeln durchgesetzt. Mit anderen Worten: ein Scheißtag! Dann ging ich mittags zum Essen nach Hause und nahm die Abkürzung über den oberen Sportplatz. Dort, am Ende der Sprintlaufbahn, an der äußeren Ecke des Schulhofs hockte Herr Rüther auf dem Geländer und hatte wohl Aufsicht. Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe, als ich da auf ihn zugegangen bin, ob ich ihn überhaupt wahrgenommen habe, und ich weiß auch nicht mehr, was er zu mir gesagt hat, wahrscheinlich „Guten Tag!“ oder „Hallo!“ oder so. Was ich weiß, ist, daß er mich angelächelt hat und mir damit den Tag gerettet hat. Dabei weiß ich gar nicht mehr, ob das jetzt einfach nur freundlich oder ironisch oder aufbauend oder irgendwie mitleidig gewesen ist.
Bis zum Ende der Klasse Zehn hatte ich in Latein nie etwas anderes geschrieben als eine acht (sehr gut). Latein war für mich ein enorm wichtiges Fach. Durch die systematische Herangehensweise an Sprache, Grammatik, Satzbau verstand ich auch die deutsche Sprache besser. Mir machte aber auch der Umgang mit dieser Sprache Spaß; es war eine Herausforderung, einen komplexen Satz zu „knacken“ wie eine schwere Matheaufgabe. Außerdem kam mir die Sprache entgegen, weil man sie liest, wie sie geschrieben ist, und weil man sie nicht aktiv sprechen mußte (ist ja schließlich eine „tote“ Sprache). Schwierig wurde es für mich in Latein in der elften Klasse, ausgerechnet kurz vor Abschluß des Latinums Ich war für drei Monate zu einem Auslandsaufenthalt in England gewesen, hatte den Stoff der elften Klasse quasi nicht mitgekriegt, und kam ziemlich durcheinander und krank nach Hause zurück. Unter diesen Bedingungen mußte ich noch eine letzte Klausur schreiben, die, soweit ich mich erinnern kann, ein „gut“ war, aber offenbar später nicht gewertet wurde. Ich wurde den Eindruck nicht los, daß Herr Rüther es nicht akzeptieren konnte, daß ich ohne seinen Unterricht trotzdem noch gut genug war, um die Klausur zu schaffen. Aber ich war auch wirklich nicht ganz da in dieser Zeit.
Trotzdem wählte ich in der Elf Latein als weiterführenden Kurs über das Latinum hinaus. Ich war wahrscheinlich die einzige an dieser Schule, die das tat. Ein anderer Schüler sagte mir: „Warum soll ich denn jetzt noch Latein machen? Ich hab mein Latinum doch!“ Das sah ich nicht so.
Einer der Gründe, EW für die Oberstufe zu wählen, war die Aussicht, daß Herr Rüther den Kurs übernehmen würde. Auf die Weise würde ich ein vertrautes Gesicht behalten, ein anderes, meinen Deutschlehrer, war ich nämlich schon quitt. (Es gab auch EW-Lehrerlnnen, bei denen ich niemals EW gewählt hätte …) Trotzdem wurde mein Vertrauen erst einmal auf die Probe gestellt, denn der Beginn in EW war so holprig wie das Ende in Latein. Es gab ganz offensichtlich Meinungsdifferenzen. Zum Beispiel zum Thema Kibbutz-Erziehung. Den Gedanken, kleine Kinder schon im Säuglingsalter in eine Krippe zu stecken, fand Herr Rüther offenbar schrecklich. Ich fand ihn praktisch. Als wir die Kibbutz-Erziehung durchnahmen, sprachen wir auch kurz über Sozialismus. Einer von uns sagte: „Ach, wie in der DDR!“ Darauf Herr Rüther trocken: „Ja, die versuchen da auch gerade so was!“ Dann habe ich quasi „seine“ Rom-Fahrt sabotiert. In der ganzen Mittelstufe war für mich klar gewesen, daß ich mit Herrn Rüther in der Zwölf nach Rom fahren würde. Aber jetzt lockte in Religion die Möglichkeit, nach Israel zu fahren. Dreieinhalb Wochen Israel für das gleiche Geld wie eine Woche Rom. Und da war natürlich klar, wofür ich mich entschied Und der Großteil des ehemaligen Lateinkurses ebenso. Wir hätten vielleicht mit Herrn Rüther nach Israel fahren sollen – dann wäre die Fahrt netter gewesen, und es wäre nicht zu einigen unschönen Situationen gekommen …
Im nachhinein tut mir das leid. Aber man war damals eben jung. Und dumm. Und stürmisch. Weitere Mißtöne in EW verursachte der Umstand, daß ich nun sehr stark von Biologie und den Naturwissenschaften beeinflußt wurde, und die etwas pietätlose Ausdrucksweise der Biologie verprellte Herrn Rüther offensichtlich. Ich habe das durchaus gemerkt, hatte daran aber meinen Spaß. Ich wollte ein wenig schockieren.
Kornmumkationsprobleme gab es auch in Sachen Humor. Ich hatte mir einen ziemlich bissigen Humor zu eigen gemacht, beeinflußt von meinem Deutschlehrer (ich soll auch schon vorher ironisch gewesen sein). Sarkasmus und Zynismus waren jedoch nicht Herrn Rüthers Ding. Maximal leise Ironie. Meist aber ein gutmeinender, tiefgründiger, freundlicher, augenzwinkernder Humor ohne Bosheit oder Spitzen. Nach und nach kam dann aber in EW doch wieder alles ins Lot, und ich arbeitete mich allmählich wieder hoch.
Was ich immer sehr an Herrn Rüther gemocht habe, war, daß er nie aus der Haut fuhr. Das vermittelte ihm Souveränität. Er ließ sich nie provozieren, nie aus der Reserve locken, wurde nie laut. Ich habe nur ein einziges Mal erlebt, daß er die Fassung verloren hatte. Das war während der Oberstufenzeit; wir waren in der zwölften oder dreizehnten Klasse und hatten eine Doppelstunde EW am Nachmittag. Er kam rein, setzte sich an den Schreibtisch, legte seine Bücher beiseite und sagte sinngemäß: „Ich kann heute keinen Unterricht machen. Mir ist was ganz Seltsames passiert.“ Dann erzählte er, daß er Aufsicht gehabt hatte im Treppenhaus. Plötzlich habe sich eine seiner Lateinschülerinnen vom Treppenabsatz aus auf ihn gestürzt und habe auf ihn eingeschlagen. So etwas sei ihm noch nie passiert. Der Hintergrund war wohl der, daß er die (gute) Schülerin dabei erwischt hatte, wie sie einem (leistungsschwachen) Mitschüler, in den sie verknallt gewesen war, während der Klausur geholfen hatte. Sie hatten aber so ungeschickt gemogelt, daß er es gemerkt hatte. (Sie hatten die Aufgabenblätter ausgetauscht, auf denen die Lösungen standen, nur nicht daran gedacht, daß er nicht nur die Hefte, sondern auch die Aufgabenblätter kontrollierte und die Schriften erkannt hatte und natürlich den Stil der Schüler kannte. Die Lösungen auf den Blättern und in den Heften paßten ebenfalls nicht zusammen.) Die Schülerin fühlte sich bloßgestellt, weshalb sie später wie eine Furie auf ihn losgegangen war. Es fiel uns ziemlich schwer, uns diese Szene vorzustellen. Herr Rüther war ja nun nicht gerade klein und auch nicht schmächtig gebaut…
In der dreizehnten Klasse bereitete er uns gründlich auf die mündliche Abiturprüfung vor. Er gab auch Beispiele, wie man sich um Lücken herumarbeiten konnte, indem man die Diskussion auf ein Thema lenkte, das einem lag. Allerdings solle man dies nicht übertreiben. Er habe mal einen Schüler erlebt, der offensichtlich nur etwas über das Pferd zu sagen hatte. Bei jeder, aber auch jeder Frage habe er von neuem angefangen: „Also, beim Pferd …“ (Ob das jetzt nur so ein Beispiel für uns war, jemandem vom Pferd zu erzählen … ? Man weiß es nicht.) Zu den Vorbereitungen für das mündliche Abitur gehörte bei ihm auch, daß er vorab im Unterricht Probeprüfungen mit uns durchführte. Mein Thema war „Kindergarten“, und das ging gründlich in die Hose. Ich wußte zwar, was wir in EW zum Kindergarten gelernt hatten und konnte das auch abspulen, aber irgendwie geriet das in Konflikt mit dem, was ich fühlte. Ich hatte als Kind nämlich den Kindergarten gehaßt. Es kam also so ein ziemlich wirrer „Ja, aber-Vortrag“ dabei heraus. Herr Rüther räusperte sich und meinte: „O.k., dieses Thema nehmen wir im Abitur also nicht…“ Er hat sich wirklich daran gehalten. Er hätte mich knallhart auf Eis führen können. Ich hatte das befürchtet. Er hätte mir die Sache mit der Romfahrt heimzahlen können. Aber das hat er nicht getan. Im Gegenteil. Er hat sogar noch ein sehr freundliches Thema ausgewählt: Sommerhill und die konsequente Erziehung. Und mir in der Prüfung das Thema Kibbutz-Erziehung zugespielt, so daß ich mich dort von der besten Seite zeigen konnte. Das war mehr als fair! Und das werde ich ihm nie vergessen!
Sein Verhalten während des mündlichen Abiturs war insgesamt sehr rührend. Er umkreiste uns wie eine besorgte Glucke. Daß er uns nicht noch Händchen gehalten und in den Prüfungsraum getragen hat, war alles. Wenn ich nicht so nervös gewesen wäre, hätte ich darüber sicher schmunzeln müssen. Das war im Frühjahr 1988.
An unserer Abifeier nahm er, soweit ich weiß, nicht teil. Überhaupt machte er sich meistens recht rar. Wir nahmen an, daß es wohl so viel Aufwand war, aus dem Sauerland herauszukommen. Umso überraschter war ich, ihn auf einer Schulfeier zu sehen. Ich glaube, es war eine Feier anläßlich des 25. Jubiläums der Schule. Die Lehrer zapften für die Gäste. Ob sie das freiwillig taten? Da hatte ich so meine Zweifel. Das war das letzte Mal, daß ich ihn sah. Und wieder einmal habe ich mich saudumm benommen. Ich hatte gerade mein Biologie-Diplom gemacht und ein Promotionsstipendium bewilligt bekommen, war dementsprechend arrogant. Gleichzeitig stand ich ziemlich unter Strom, weil die Zeit der Diplomarbeit unter einer beinharten Chefin und die Prüfungen sehr nervenaufreibend gewesen waren. Aber die wirklich fürchterliche Zeit unter einem noch schlimmeren Chef sollte erst beginnen. Ich betrachte das heute als Strafe für meinen Hochmut.
Ich‘ frage mich, womit das Ansehen und die Position und die Gehälter der Hochschulprofessoren eigentlich gerechtfertigt werden. Die besten Lehrer, die feinsten Menschen habe ich nicht an der Hochschule, sondern an der Schule kennengelernt. Kein Universitätslehrer war so gut wie diese Lehrer! Ich frage mich, warum die Hochschulprofessoren so viel Ehre und die Lehrer so wenig Ansehen erhalten. Warum Hochschullehrer, die sich auf ihren Posten ausruhen können, asbachuralt werden, und die guten Lehrer in den Schulen verheizt werden und viel zu früh sterben.
Ich frage mich auch, warum man all diese Dinge erst sagt, wenn die Leute gestorben sind, und warum man sie ihnen nicht gesagt hat, als sie noch lebten und noch etwas davon hatten Das macht mich am traurigsten.
„Für all die Worte, die ich hätte sagen müssen,
und niemals gesagt habe …“
Annelie Reißner
Osterflierich, den 3. Juni 2009