Ein Zeitzeugnis, das bedrückt

Viele Schülerinnen und Schüler werden ein solches Zeitzeugnis nicht mehr erleben: Die 90-jährige Halina Birenbaum erzählte in der Gesamtschule von ihrem Überlebenskampf im Konzentrationslager Auschwitz.

Halina Birenbaum veröffentlichte bereits Mitte der 1960er Jahre ihre Erinnerungen „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Bild: Hellweger Anzeiger

Als die kleine alte Dame sich dem Eingang der Aula nähert, halten einige Schüler auf dem Flur plötzlich inne. Ein Mädchen zieht eine Mitschülerin beiseite, damit die Frau in der blauen Hose und dem knallroten Pullover in den Saal eintreten kann. Vielleicht war das einfach nur Höflichkeit dem Alter gegenüber, gut erzogene Kinder, aber man konnte ebenso gut den Eindruck gewinnen: Die 15- und 16-Jährigen ahnten, wer da plötzlich neben ihnen stand und dass sich angesichts dieses Schicksals ein respektvolles Verhalten gehörte.

»Wer wird das erzählen? Die Steine? Die Bäume?«
Halina Birenbaum

Die Sitzreihen in der Aula sind bereits gut gefüllt mit Schülern, als Halina Birenbaum, Jahrgang 1929, die Bühne betritt. Auch in dem großen Raum wird es nun deutlich ruhiger. Spannung liegt in der Luft. Auf dem Podium sind Schautafeln aufgebaut. Sie berichten über die Projektfahrt der zehnten Klasse nach Krakau und in das benachbarte ehemalige Konzentrationslager Auschwitz m vergangenen Jahr. Die jungen Zuhörer in der Aula haben das finsterste Kapitel deutscher Geschichte also bereits intensiv behandelt. Neben den Zehntklässlern sitzen auch Schüler des Geschichte-LK im Auditorium. Können Geschichtsbücher, Filme und sogar ein Besuch des Ortes der Vernichtung von Millionen Menschen ersetzen, was jemand erzählt, der den Schrecken am eigenen Leib erfahren hat? Wohl kaum.

Halina Birenbaum ist sofort mitten im Thema. „Es ist nicht mehr verboten, dass Juden mit Deutschen sprechen“, sagt sie gleich in ihrem ersten Satz. Das verstört. Und es wäre bedauerlich, dürfte sie nicht zu den Schülern sprechen. Denn: „Es gibt hier jemanden, der etwas zu sagen hat“, hatte Schulleiter Klaus de Vries zuvor über Halina Birenbaum geäußert.

Was Halina Birenbaum zu sagen hatte, war nicht leicht zu ertragen. Beinah atemlos durchschritt die Greisin ihr schweres Schicksal aus Kindheitstagen erneut, dabei fast zwei Schulstunden lang stehend: Mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 endet die Kindheit von Halina Birenbaum praktisch.

Sie erlebt in Warschau die massiven Bombardements der NS-Luftwaffe, die die Stadt halb zerstören. Nach der zweiten Klasse muss das Mädchen die Schule verlassen. In ihrer Geburtsstadt wird sie mit ihrer Familie später im Ghetto eingepfercht. Der Vater wird als Erster aus der Familie verschleppt. „Ich weiß nicht, ob er im Zug erstickt oder nach Treblinka gekommen ist.“ Es sei immer noch Schlimmeres passiert, als sie sich habe vorstellen können. „Das war meine Schule“, sagt sie dazu.

Mit 13 Jahren ins KZ

Mit gerade 13 Jahren wird sie in das Konzentrationslager Majdanek und dann nach Auschwitz verschleppt. Dass es manchmal einfach nur Glück, oft auch ein steter Kampf war, den Holocaust zu überleben, macht Halina Birenbaum eindrücklich klar. „Von meiner Mutter hatte ich gelernt: Sag‘, dass du 17 bist – denn Kinder brauchen sie nicht.“ Sie sieht, wie „die Kranken mit weißer Zunge nach links ins Gas“ geschickt werden, die Gesunden kommen davon – vorerst. Ein 16-jähriges Mädchen, mit dem sie sich anfreundet, ist krank, wird „selektiert“ – sie habe noch ihre Wärme in der zurückgelassenen Decke gespürt, erzählt der Gast. „Zurückkommen von der Selektion – das war das einzig Wichtige“, sagt Halina Birenbaum noch so einen Satz, der sich einprägen wird.

Selektion, Zählappelle, Blockälteste, Umschlagplatz – die eh schon kalten und abstrakten Begriffe der NS-Sprache erhalten mit Halina Birenbaums Vortrag eine bedrohliche Verstärkung, wirken ungut nach.

Am 18. Januar 1945, nur wenige Tage vor der Befreiung von Auschwitz, setzt sich die Odyssee von Halina Birenbaum und anderen KZ-Häftlingen fort. Nach Ravensbrück zieht der „Todesmarsch“. Nicht vorstellbar: „Fünf Tage und fünf Nächte haben wir Schnee gegessen und Schnee getrunken.“

„Wer wird das erzählen? Die Steine, die Bäume?“, hatte Halina Birenbaum schon in einem Pressegespräch vor ihrem Auftritt in der Aula über ihre Motivation verraten. Sollte sie die Hölle des KZ überleben, so wolle sie den Nachgeborenen berichten, hatte sie sich schon als Mädchen vorgenommen.

Mucksmäuschenstill

Längst ist es in der Aula mucksmäuschenstill geworden; nur einmal hatte Halina Birenbaum freundlich, aber bestimmt darum bitten müssen, entweder zu schweigen oder den Raum zu verlassen. „Es kann ja sein, dass es nicht interessiert oder zu traurig ist.“ Die Aula verließ niemand. Bereits nach dem Besuch von Auschwitz hatte ein Schüler der GSF seine Erwartungen und sein tatsächliches Erleben in Worte gefasst: „Erfüllt hat sich, dass diese Erfahrung eine sehr wichtige und schwierige war.“

Ein Besuch in Ausschwitz

Projektfahrt der Zehntklässler nach Krakau

Der Bericht „Die Hoffnung stirbt zuletzt – den Opfern von Auschwitz ein Gesicht geben“ der Zeitzeugin Halina Birenbaum ergänzte ein Geschichtsprojekt der Zehntklässler an der Gesamtschule.

Im vergangenen Jahr hatten die Schülerinnen und Schüler Krakau und das nicht weit entfernte Auschwitz besucht. So erlebten die Gesamtschüler unter anderem bei einer Führung das jüdische Viertel von Krakau und das einstige Ghetto dort. Im sogenannten Stammlager Auschwitz konfrontierten die Mitarbeiter die Besucher aus Fröndenberg sehr direkt mit den unvorstellbaren Verhältnissen in dem KZ. Nicht nur Bilder von Opfern, sondern auch die Habseligkeiten wie Koffer oder Krücken, selbst Haare, die den Insassen abgenommen worden waren, hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Auch auf einen Zeitzeugen trafen die Schüler.

Schulleiter Klaus de Vries wies bei der Begrüßung von Halina Birenbaum am Montagmittag in der Aula darauf hin, „dass tatsächlich in Deutschland heute wieder Menschen wegen ihrer Religion, Haltung oder Hautfarbe angefeindet werden“.

Insofern sei es umso wichtiger, den letzten Zeugen einer Epoche des Unrechts zuzuhören. De Vries endete mit einer Mahnung: „Wenn man sich nicht für die Rechte anderer einsetzt, kann das in einem Unrechtsstaat enden – das will keiner von uns, da bin ich mir ganz sicher.“

(Hellweger Anzeiger, vom 29.01.2019, Marcus Land)

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