Rede zum 40-jährigen Bestehen der Gesamtschule Fröndenberg
Ullrich Schmidt, Ministerialrat a.D. und ehemaliger Schulleiter der Gesamtschule Fröndenberg
Es ist mir eine besondere Freude, heute mit Ihnen zusammen das 40-jährige Bestehen einer erfolgreichen und landesweit bekannten Schule zu feiern. Diese Schule hat auch die überörtliche Entwicklung der Gesamtschulen in NRW maßgebend mit beeinflusst. Und ich stehe nicht an zu bekennen, dass ich stolz auf diese Schule bin, die ich als Lehrer, Schulleiter, Schulaufsichtsbeamter und Vater zweier Gesamtschüler fast ein Berufsleben lang begleitet habe.
Diese Schule steht für einen bedeutsamen Abschnitt der Fröndenberger Stadtgeschichte. Repräsentiert sie doch den Gestaltungswillen, mit dem die politisch Verantwortlichen die kommunale Neuordnung Ende der 60-er Jahre angingen. Und ich erinnere mich noch gern an die Aufbruchstimmung, die damals von den Verantwortlichen in Rat und Verwaltung ausging. Industrieansiedlung, Wohnungsbau, Verbesserung der sozialen Versorgung und des Freizeitwertes der Stadt waren die zentralen Anliegen. Und in dieser Entwicklungsperspektive war der neu zu errichtenden Schule eine tragende Rolle zugedacht. Attraktiv sollte sie sein durch ein umfassendes Abschlussangebot. Zugeschnitten sollte sie sein auf die Erfordernisse der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Wandels. Und vor allem: Eine Schule für Kinder und Jugendliche sollte sie sein. Eine Schule, die nicht fragt, ob sie die richtigen Schüler hat, sondern eine Schule, die sich ausschließlich darum kümmert, jeden der ihr anvertrauten jungen Menschen möglichst umfassend zu fördern.
Vor diesem Hintergrund verknüpfte der Rat der Stadt Fröndenberg mit dem Bürgermeister Droste an der Spitze die kommunale Schulplanung mit den bundesweiten Bemühungen um eine grundlegende Reform des Schulwesens.
Mancher unter Ihnen wird sich noch an den von Georg Picht geprägten Begriff der „Bildungskatastrophe“ erinnern, der – ähnlich wie heute die Ergebnisse der PISA-Studien – die schulpolitische Diskussion der 60-er Jahre bestimmte. Aber anders als in den nachfolgenden Jahrzehnten war diese Diskussion damals nicht belastet von den Ängsten vieler Eltern, weniger leistungsstarke oder schlecht erzogene Schüler könnten die Aufmerksamkeit der Lehrer von ihren eigenen Kindern ablenken. Und es gab auch noch nicht die ideologischen Spaltung, die später und zum Teil bis heute die fachlichen Diskussionen unter dem Stichwort „Einheitsschule“ prägte.
Statt dessen wurde 1965 über die Parteigrenzen hinweg und gemeinsam vom Bund und den Ländern der Deutsche Bildungsrat gegründet. Ihm gehörten neben Regierungsvertretern namhafte Wissenschaftler sowie Vertreter der Kirchen, der Industrie und der Gewerkschaft an. Dem Bildungsrat wurde aufgetragen, Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen zu entwerfen und Empfehlungen für eine langfristige Weiterentwicklung zu geben.
Der Deutsche Bildungsrat formulierte schließlich einvernehmlich die grundlegenden Bildungsanforderungen, die untrennbar mit der Entwicklung einer demokratischen Industriegesellschaft verbunden sein sollten. Und zu den wichtigsten Forderungen des Bildungsrates gehörten:
· Chancengleichheit für alle und
· Die Vermeidung verfrühter Schullaufbahnentscheidungen.
Dieser Empfehlung folgend beschloss die nordrhein-westfälische Landesregierung, eine begrenzte Anzahl von wissenschaftlich begleiteten Schulversuchen durchzuführen. Und der Rat der neu entstandenen Flächengemeinde Fröndenberg mit etwa 19.000 Einwohnern nutzte diese Chance der Stunde Null – wie der damalige Kultusminister Holthoff es ausdrückte. Als eine von sieben Städten beschloss Fröndenberg, an diesem Schulversuch teilzunehmen. Fröndenberg gewann damit weit über die Grenzen des Landes NRW hinaus schulpolitische Bedeutung. Und ich denke, die heutige Feier gibt Anlass, sich noch einmal daran zu erinnern, dass seinerzeit nicht nur Fachleute aus NRW, sondern aus allen Bundesländern und zum Teil sogar aus benachbarten europäischen Ländern die Gesamtschule Fröndenberg besuchten, um die innovativen Ansätzen dieser Schule in der Praxis kennen zu lernen.
Der Rat der Stadt Fröndenberg verfolgte jedoch mit seinem Einstieg in eine grundlegende Schulreform vor allem zwei kommunalpolitische Ziele: Zum einen sollte das neue schulische Angebot aller Bildungswege und Abschlüsse vor Ort Fröndenberg attraktiv machen für den Zuzug von wichtigen auswärtigen Fachkräften. Zum anderen sah man in der Aufhebung des unverbundenen Nebeneinanders unterschiedlicher Bildungswege die Voraussetzung, die Bildungschancen der Kinder aus bisher benachteiligten Familien entscheidend zu verbessern.
Es würde den Rahmen dieser Feier sprengen, die spannende Geschichte der Planung und des Aufbaus dieser Schule noch einmal vor Augen zu führen.
Aber man tut gut daran, sich auch heute noch einmal die pädagogische Vision vor Augen zu führen, die das Kollegium in den Anfangs- und Aufbaujahren leitete. Ihre Arbeit stellten sie vor allem in den Dienst der Aufgabe, eine Schule zu schaffen, die nicht den „Stoff“, sondern die ihr anvertrauten Schüler in den Mittelpunkt aller Bemühungen stellt.
Die neue Schule sollte nicht ein Ort der Belehrung, sondern zuerst und vor allem ein Ort des Lernens sein. Die neue Schule sollte vor allem die Erfahrung vermitteln, wie hilfreich Wissenschaft und Kunst bei der Bewältigung der Aufgaben und Probleme sein kann, die sich im wirklichen Leben, in der Lebens-, Familien- und Berufspraxis stellen.
Uns allen, die wir an der Gründung und am Aufbau dieser neuen Schule beteiligt waren, – uns allen wurde bald klar, dass die angestrebten Formen des schüler-zentrierten Unterrichts und des eigenverantwortlichen Lernens beim Lehrer ein anderes professionelles Selbstverständnis voraussetzten. Kam es doch – anders als in der bis dahin üblichen Unterrichtspraxis – nicht darauf an, Schüler vorrangig zu belehren oder sie auf Kenntnislücken oder Fehlleistungen aufmerksam zu machen. Viel wichtiger wurde es, zu beobachten, wie der einzelne Schüler seine individuellen Möglichkeiten nutzt, und ihm Hilfen an die Hand zu geben, mit denen er seine Lernfortschritte erkennen und selbst verbessern kann.
Und ich denke, dieser Fröndenberger Gesamtschule gelang es bald und gelingt es bis heute, Schüler und Eltern davon zu überzeugen, dass der in diesem Sinne geführte gemeinsame Unterricht mit Schülern unterschiedlicher Fähigkeiten, Interessen und Erfahrungen für alle Seiten wichtige Vorteile bringt.
Einerseits merkten die Schüler bald, dass es ihnen selbst viel brachte, wenn sie von sich aus Mitschülern schwierige Sachverhalte erläutern mussten, die sie selbst bereits verstanden hatten. Sie sahen sich nämlich gezwungen, sich noch einmal selbst intensiver und tiefergehend mit bereits gewonnenen Erkenntnissen auseinander zu setzen und sich selbst die Ergebnisse in geordneter Form bewusst zu machen. Das führte erkennbar zugleich zu einer Verbesserung der eigenen Kompetenz.
Auf der anderen Seite konnten sie die Erfahrung machen, dass das Lernen deutlich erleichtert wurde durch die Erläuterungen Gleichaltriger und die Möglichkeit, Verständnisprobleme unmittelbar und gesprächsweise – und nur notfalls mit Hilfe des Lehrers – abzuklären. Und ich denke, dass dies unser aller Erfahrung entspricht, nach der die Erläuterung eines informierten Laien oft besser verständlich ist als der detaillierte Sachvortrag von Experten.
Im Schulalltag setzten und setzen die Lehrer der Gesamtschule bewusst auf eine Pädagogik, die von der Struktur der Gesamtschule nahegelegt wird wie sonst von keiner anderen Schulform. Zentrales Erziehungsziel der Gesamtschule, dieser gemeinsamen Schule für alle Kinder – zentrales Erziehungsziel ist es, dass ihre Schülerinnen und Schüler bei allen Unterschieden in der gemeinsamen Arbeit zugleich auch soziale Verantwortung und gegenseitige Achtung entwickelten und praktizierten.
Diese Schwerpunktsetzung war und ist heute ist umso dringender geboten, weil es für junge Menschen in dieser Entwicklungsphase wichtig ist zu erfahren, wie wertvoll es sowohl für einen selbst wie für die Gemeinschaft ist, die Interessen anderer zu verstehen, zu achten und beim eigenen Tun verantwortungsvoll zu berücksichtigen.
Ich bin persönlich der Auffassung, dass es unserer Gesellschaft insgesamt gut täte, die schulische Erziehung und Bildung nicht nur im Primarbereich, sondern auch in der Sekundarstufe unter dem Prinzip des gemeinsamen Lernens zu organisieren.
Für mich sind beispielsweise die derzeitige weltweite Finanzkrise ebenso wie das öffentlich diskutierte Verhalten der Führungskräfte in der Wirtschaft deutliche Warnzeichen: Bei uns droht sinnvolles Konkurrenzdenken zu rücksichtslosem Vorteilsstreben zu verkommen. Sinnvoller Qualitätswettbewerb droht durch das Bestreben ersetzt zu werden, Mitkonkurrenten ohne Rücksicht auf Verluste und mit welchen Mitteln auch immer auszustechen. Und auch im Alltag meine ich zunehmend zu beobachten, wie die Motivation, die eigene Leistung zu verbessern, durch die Bereitschaft ersetzt wird, für das eigene Vorankommen selbst die Beschädigung anderer in Kauf zu nehmen.